Sonntag, 17. April 2016

Güte und Gnade

(Spoilerwarnung für „Cwideas“, insbesondere für die Kapitel 55-57.)

Güte und Gnade – gódness and miltsung



Alles dank Théodens sogenannter Güte und Gnade.



Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wie mir die Idee kam, wieder mal ein Dorf in Rohan abzubrennen. Dieses „Dorf-abbrennen“ scheint schon so logisch zu sein dank der Filme, dass sich das irgendwie bei mir eingebürgert hat. Außerdem ist Feuer zerstörerisch und immer hungrig, und es kann verheerende Folgen haben. Und genau darauf wollte ich ja hinaus.
Ich gebe zu, ich brauchte auch etwas, was die Aufmerksamkeit des Königs auf sich ziehen würde, was den König zwingen würde, zu handeln. Einen Mord kann er noch ignorieren und das dem zuständigen Fürsten als Aufgabe übergeben, die Auslöschung eines ganzen Dorfes hingegen lässt sich nicht so einfach ignorieren. Von einem König sagt man schließlich, er muss für sein Volk da sein.
Doch beginnen wir am Anfang der Geschichte, wie sich die Idee der „Güte und Gnade“ als so ironisch entwickelt hat und die Entstehung des Tourette-Narren. (Er ist immer noch namenlos. Ich werde ihn hier Túrlor nennen, als Anspielung auf seine Krankheit. Zudem bedeutet „tur-“ drehen, quirlen, wirbeln, bewegen, was gut zu seinem Tick passt. „Lor“ hingegen... lor bedeutet Verlust, Verderben, oder als Verb: schneiden, trennen, lösen, verlieren. Es lässt mich gerade wieder kichern, weil ich die Silbe „-or“ (Anfang, Ursprung, Stirn) nur zufällig an das Wort „turl“ angehängt hatte, welches Schöpfkelle bedeutet... wie Namen ihre Bedeutung ändern können, wenn man einfach nur das Wort anders betont.)
Auf einiges hiervon bin ich schon in meinem „Altenglischfehler“-Post eingegangen, inklusive die Entstehung der Figur Cénes. Anfangs war geplant, dass Túrlor ihr nachstellen sollte, das wurde aber jedoch recht schnell wieder von mir verworfen, weil das Gríma wieder zu edel hätte wirken lassen, zu sehr wie Éomer. Außerdem wäre das ziemlich ironisch geworden, da Gríma ja später selbst Éowyn nachstellt, und ich glaube nicht, dass er das getan hätte, wenn er diese Erinnerung an Céne noch hätte.
Túrlor leidet am Tourette-Syndrom, welches ihn sogenannte „Ticks“ haben lässt – seine Reaktionen sind sehr geschärft, sein Kopf zuckt manchmal sehr merkwürdig, und wenn er aufgeregt ist, dann quellen ihm Schimpfwörter aus dem Mund. Da kann er nichts für, das ist die Krankheit, und zudem in einer recht milden Form.

Informationen darüber habe ich sowohl von Wikipedia als auch aus dem Buch „The Man Who Mistook His Wife For a Hat“ von Oliver Sacks. Sehr interessantes Buch, welches wir damals im Unterricht „Language and Cognition“ empfohlen bekommen haben, als wir über die rechte und linke Gehirnhälfte redeten und darüber sprachen, wie das Menschen beeinflusst, wenn eine der Hälften (oder bestimmte Bereiche dort) beschädigt sind, denn es gibt so unglaublich viele verschiedene Dinge, wie die Leute dann reagieren. Es gibt in dem Buch eine Geschichte über einen Mann, der eines Nachts aufwachte und bemerkte, dass jemand ihm ein fremdes Bein in das Bett gelegt hatte – es war sein Eigenes, aber er nahm es nicht mehr als sein Eigenes wahr und beschwerte sich darüber, dass es an ihm kleben würde. Er versuchte, es abzureißen, aber das funktionierte natürlich nicht. Im Buch findet sich auch eine Geschichte über einen Mann, der seine Frau für einen Hut hält und versucht, sich ihren Kopf aufzusetzen, ehe er seinen Fehler bemerkt. Er erkennt keine Gesichter, sieht aber stattdessen Gesichter dort, wo keine sind – es ist beschrieben, dass er ab und zu einen Hydranten oder eine Parkuhr tätscheln oder mit einem Türknauf reden würde, weil er davon überzeugt ist, dass dies Kinder seien.
Es sind teilweise sehr schräge Geschichten, aber nichts, was man heutzutage (immer noch instinktiv, oder zumindest ich) mit Geisteskrankheiten durch viele Filme verbindet – Schizophrenie, irre vor sich hin kichernde Leute, die vor und zurück wippen und schreien.
Doch früher hat man so etwas vielleicht so aufgefasst. Meine Recherche ergab, dass man teilweise betrunkene Leute für geisteskrank hielt, und um ehrlich zu sein – manche der Methoden, die an Geisteskranken durchgeführt wurden, sind so grenzwertig, dass man sich nicht darüber wundert, dass die Leute dadurch tatsächlich wahnsinnig wurden. (Ich habe mir letztens das Let‘s Play zu „Town of light“ angeschaut, welches auf einer wahren Begebenheit beruht, die noch gar nicht mal so lange her ist. Es überläuft einen da mehrmals ziemlich kalt.)
Doch Túrlor sollte relativ harmlos sein, ähnlich wie der Noah aus „The Village“, der zwar merkwürdig angeschaut wird, aber (eigentlich) niemandem etwas tut. Túrlor hat seine Ticks und seine Ausbrüche von Schimpfwortanfällen, wenn er aufgeregt ist, fällt ansonsten aber nicht auf.
Es war anfangs auch geplant gewesen, dass Túrlor gleich das Feuer legen sollte, davon wich ich aber wieder ab, da es somit keine „Gnade“ seitens Théodens gegeben hätte und Gríma somit keinen Grund für seine Verachtung gegenüber seinem König. (Er spuckt ihm immerhin im Buch vor die Füße, ehe er flieht, und das interpretiere ich meist als Zeichen ziemlicher Verachtung.)

Also musste ich etwas finden, was Túrlor tun könnte. Was würde die Aufmerksamkeit des Dorfvorstehers erregen und ihn gefährlich machen? Auch hier: hätte er Céne einfach nur nachgestellt, wäre das nicht unbedingt ein Fall für den König gewesen, und zudem sollte Gríma nicht seine Finger mit im Spiel haben, sondern als (mehr oder weniger) unbeteiligter Beobachter danebenstehen und beobachten.
Also kam mir die Idee, dass Túrlor einen Mord begehen könnte – oder es zumindest versuchen. Das würde auf jeden Fall den Dorfvorsteher auf den Plan rufen, und sicherlich würde dies auch Erkenbrands Aufmerksamkeit erregen, wenn Túrlor sich vielleicht ein wenig unangemessen im Gefängnis verhalten würde.
Und wenn Túrlor sich dann auch noch nicht beherrschen kann und Erkenbrand beschimpft, vielleicht sogar auch den König... dann muss der König davon erfahren, oder? Wäre Túrlor nicht solch ein schwieriger Fall, dass Erkenbrand gerne möchte, dass der König ihm bei seiner Entscheidung hilft? Immerhin betrifft dies auch Théoden, Túrlor beleidigte ihn schließlich. Zudem hört man in den alten Geschichten auch immer, dass Leute von weit her kommen, um den König Recht sprechen zu lassen, denn ein König gilt schließlich als weise und fähig, die richtige Entscheidung zu treffen.
Ich beginne schon wieder, leise vor mich hin zu kichern.
Also wurde Túrlor vor den König gebracht, und zusätzlich zu seiner Nervosität, vor dem König zu stehen, ließ ich ihn auch gleich noch einmal mit Blutegeln behandeln. Túrlor hat schließlich böses Blut in sich, und Leute werden ruhiger und wehren sich nicht mehr so sehr, wenn man ihnen Blut abnimmt.
Doch Túrlors Tick lässt sich leider nicht ganz so leicht ruhigstellen, wenngleich dieser noch relativ harmlos ist. Das Einzige, was er tut, wenn er aufgeregt wird, ist, zusammenhangslos mit obszönen/anstößigen Wörtern um sich zu werfen – damals im Mittelalter jedoch genug, um einen als wahnsinnig zu bezeichnen. Und umso schlimmer, wenn man sich in einer gehobenen Gesellschaft befindet, die Wert auf höfliche Umgangsformen legt.
Die armen Adeligen werden also wohl allesamt einen ziemlichen Schock bekommen haben, Túrlor so sprechen zu hören, manche werden wohl auch angewidert, empört gewesen sein. Und der arme Túrlor, der ja nur versuchte, seine Tat zu erklären, aber so aufgeregt ist, dass er sich um Kopf und Kragen redet. Kein Wunder, dass die meisten von Théodens Ratgebern (Gríma ja mit eingeschlossen) der Meinung ist, dass man Túrlor am besten ruhigstellen sollte.
Théoden jedoch nicht. Théoden ist gütig und gnädig, Théoden sieht, dass Túrlor das nicht böswillig macht, sondern dass das eine Art Zwang für ihn ist. Der König ist also gütig und gnädig und lässt Túrlor mit einer Verwarnung laufen.
Und eigentlich wäre das hier das Happy End gewesen: Yay, Théoden ist weise, Théoden ist gerecht, Théoden entscheidet richtig und lässt einen Unschuldigen laufen, der ja nichts für seine Krankheit kann. Heil Théoden, lasst uns Kuscheleinhörner ihm zu Ehren reiten!

Man darf mich hier nicht falsch verstehen: Ich mag Théoden, ich bewundere ihn. Ich mag ihn aufgrund seiner Menschlichkeit, die er im Buch zeigt, aufgrund seines selbstironischen Humors. Er nimmt Merry als seinen Schwert-Than an, als dieser danach fragt; er willigt selbst ein, dass er für Merry wie ein Vater sein wird („zumindest für eine kleine Weile“). Théoden gehört zu meinem absoluten Lieblingskönig und mit zu meinen Top 5 Lieblingspersonen aus dem „Herrn der Ringe“.
Aber „Cwideas“ handelt nicht von Théoden, es handelt von stuntfola und von Gríma. Es hätte nicht mit der Botschaft zusammengepasst, die ich vermitteln will und die in Teilen auch lautet: Bei manchen Entscheidungen kann man die Konsequenzen nicht vorhersehen. Manche Entscheidungen werden getroffen, weil man Gutes tun will, und es stellt sich nachher heraus, dass diese Entscheidung mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat.
Und manchmal klappt es eben nicht, dass man Leute retten möchte.
Güte und Gnade werden von dem Helden der meisten Literatur groß in den Mund genommen, wenn er jemanden verschont. Wenn die verschonte Person dann jedoch wieder auftaucht und den Helden angreift, dann ist das niiiieeemals die Schuld des Helden, sondern dann war die verschonte Figur einfach böse oder zu doof, um das Geschenk zu würdigen, was ihr aufgrund der allmächtigen Gnade des Helden zuteil wurde. Nein, der Held ist unfehlbar und macht niemals Fehler. Fehler sind schließlich menschlich, und das können wir unserem Helden nicht zumuten. (Ich schaue sort of dich an, Harry Potter, weil mir gerade kein anderes Beispiel einfällt. Schließlich hast du Pettigrew laufen lassen, und dank dir bekam Voldemort einen neuen Körper. Hättet ihr Pettigrew umgebracht, wäre das nicht unbedingt passiert.)

Es vergehen also einige Wochen, Monate, in denen nichts passiert, bis die Nachricht kommt, dass ein gewisses Dorf abgebrannt ist. Dieses Mal sogar nicht Sarumans Schuld; ausnahmsweise sollte der Istar mal nicht seine Finger mit im Spiel haben, um Gríma zu rekrutieren.
Nein, es ist die Schuld von Túrlor, den Théoden ja in seiner Gnade und seinem Glauben an die Unschuld und die Menschlichkeit hat laufen lassen... und wo das Problem ist, dass Théoden mit seinem Glauben ja gar nicht mal unrecht hat. Er hat einfach Túrlor falsch eingeschätzt.
Ein weiterer Zug des Tourette-Syndroms, auf den ich bei meiner Recherche gestoßen bin, ist eine gewisse Unfähigkeit, die Tragweite von Handlungen zu erkennen. Und dies passte ziemlich gut mit dem Feuerlegen, denn ich wollte Túrlor nicht als böswilligen Täter darstellen.
Durch den Brand sind natürlich wieder alle entsetzt, und Théoden geht eigentlich von einem Unfall aus – womöglich schaut er mit Absicht weg, wie stuntfola ja überlegt, womöglich nicht. Vielleicht ahnt er, dass Túrlor den Brand gelegt haben könnte, vielleicht ist er auch ehrlich von einem Unfall ausgegangen.
Gríma, der durch den Tod seiner Halbschwester natürlich angemessen entsetzt ist, interpretiert Théodens Zurückhaltung in diesem Fall vielleicht als Unwille. Vielleicht ist er selbst auch so entsetzt und wütend, dass er ein wenig bei den Berichten der Überlebenden gepfuscht hat, um Théoden zu handeln zu zwingen. (Ironisch, da er ja später den Auftrag hat, gerade das Gegenteil zu tun.) Zwei Zeugen mehr zusätzlich zu Jenen, die behaupteten, einen Schatten vor ihren Fenstern zu sehen, ehe das Feuer begann... und Théoden würde das auf Dauer nicht ignorieren können.
Und schließlich treffen wir auf unseren lieben Túrlor wieder, der wahrscheinlich unter Stammeln und Beschimpfungen und vielleicht sogar Tränen erklärt, dass es nicht seine Absicht war, das ganze Dorf niederzubrennen. Er habe die Menschen nur erschrecken wollen, dachte, das das ja eine lustige Idee wäre. Feuer erschreckt Menschen, führt sie aber auch zusammen... nur leider ging der Plan nach hinten los, da Túrlor nicht bedacht hat, dass Feuer sich ja auch ausbreiten kann.

Und nachdem Túrlor geendet hat und bebend und zitternd vor dem König kniet, werden sich alle Augen auf ihn richten, auf eben den König, denn der König spricht das Urteil.
Ich beneide Théoden wirklich nicht in dieser Situation. Er weiß, dass Túrlor so gesehen tatsächlich nichts für seine Vorgehensweise kann, er ist schließlich nicht ganz zurechnungsfähig, aber hinter ihm stehen seine ganzen Berater, die eine Entscheidung von ihm wollen; ein ganzes Volk, welches womöglich Angehörige im Dorf hatte und nun den Tod des „Mörders“ fordert; seine Nichte und sein Neffe, denen er niemals wünschen würde, ebenfalls Opfer eines solchen Dramas zu werden.
Also tut er das, was er für richtig hält, was das Gesetz erfordert, („Ein Mörder, der sich seiner Tat bewusst ist, verdient dem Recht nach den Tod, und dieser Mann hatte hunderte von unschuldigen Menschen in den Flammen umkommen lassen und war geflohen.“) auch, wenn er es nicht gerne tut. (Doch der Schaden ist für Gríma selbst bereits angerichtet, denn kann er Théodens Urteil nach so etwas noch vertrauen? Kann er sich sicher sein, dass Théoden das nächste Mal in solch einer Situation richtig entscheiden wird? Dass er sich nicht wieder von seiner Güte und Gnade leiten lässt? Er kann sich nicht sicher sein, denn er ist persönlich betroffen. Und Saruman hat diese Ausstrahlung, dass ihm keine Fehler unterlaufen werden, dass er keine Schwäche zeigen wird, Saruman hat also leider den „ich habe die Kontrolle“-Vorteil. Der sich später als Nachteil herausstellt, aber das konnte man ja nicht wissen. Man kann so Vieles nicht wissen und vorhersehen.)
Und hat Túrlor den Tod verdient? Ja? Nein? Wie hätte man selbst in solch einer Situation reagiert, wie hätte man selbst entschieden?

Wer wäre denn der wahre Schuldige in dieser Situation?
Théoden, der sich anfangs von seinem guten Willen leiten ließ und Túrlor verschonte und damit indirekt das Feuer verursachte?
Gríma, der schließlich die Berichte fälschte und somit den König zwang, weiter nach Túrlor suchen zu lassen – oder dessen Stimme nicht stark genug war, Túrlor gleich beim ersten Mal unschädlich zu machen?
Túrlor selbst, der sich in seiner Unwissenheit einen „Spaß“ erlaubte?
Die Dorfbewohner, darunter auch Gálmód und Céne, die Túrlor ignorierten und nichts für oder gegen ihn taten?
Auf diese Frage habe ich zumindest eine Antwort: Schuldig bin auf jeden Fall ich, denn ich habe das Szenario schließlich geschrieben. Ich wollte damit zum Nachdenken anregen, und ich freue mich, dass es mir gelungen ist. :D

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen