(Spoilerwarnung für „Cwideas“,
insbesondere für die Kapitel 55-57.)
Güte und Gnade – gódness and
miltsung
„Alles dank Théodens sogenannter Güte und Gnade.“
Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau,
wie mir die Idee kam, wieder mal ein Dorf in Rohan abzubrennen.
Dieses „Dorf-abbrennen“ scheint schon so logisch zu sein dank der
Filme, dass sich das irgendwie bei mir eingebürgert hat. Außerdem
ist Feuer zerstörerisch und immer hungrig, und es kann verheerende
Folgen haben. Und genau darauf wollte ich ja hinaus.
Ich gebe zu, ich brauchte auch etwas,
was die Aufmerksamkeit des Königs auf sich ziehen würde, was den
König zwingen würde, zu handeln. Einen Mord kann er noch
ignorieren und das dem zuständigen Fürsten als Aufgabe übergeben,
die Auslöschung eines ganzen Dorfes hingegen lässt sich nicht so
einfach ignorieren. Von einem König sagt man schließlich, er muss
für sein Volk da sein.
Doch beginnen wir am Anfang der
Geschichte, wie sich die Idee der „Güte und Gnade“ als so
ironisch entwickelt hat und die Entstehung des Tourette-Narren. (Er
ist immer noch namenlos. Ich werde ihn hier Túrlor nennen, als
Anspielung auf seine Krankheit. Zudem bedeutet „tur-“ drehen,
quirlen, wirbeln, bewegen, was gut zu seinem Tick passt. „Lor“
hingegen... lor bedeutet Verlust, Verderben,
oder als Verb: schneiden, trennen, lösen, verlieren. Es lässt
mich gerade wieder kichern, weil ich die Silbe „-or“ (Anfang,
Ursprung, Stirn) nur zufällig an das Wort „turl“ angehängt
hatte, welches Schöpfkelle bedeutet... wie Namen ihre
Bedeutung ändern können, wenn man einfach nur das Wort anders
betont.)
Auf einiges hiervon bin ich schon in
meinem „Altenglischfehler“-Post eingegangen, inklusive die
Entstehung der Figur Cénes. Anfangs war geplant, dass Túrlor ihr
nachstellen sollte, das wurde aber jedoch recht schnell wieder von
mir verworfen, weil das Gríma wieder zu edel hätte wirken
lassen, zu sehr wie Éomer. Außerdem wäre das ziemlich ironisch
geworden, da Gríma ja später selbst Éowyn nachstellt, und ich
glaube nicht, dass er das getan hätte, wenn er diese Erinnerung an
Céne noch hätte.
Túrlor leidet am Tourette-Syndrom,
welches ihn sogenannte „Ticks“ haben lässt – seine Reaktionen
sind sehr geschärft, sein Kopf zuckt manchmal sehr merkwürdig, und
wenn er aufgeregt ist, dann quellen ihm Schimpfwörter aus dem Mund.
Da kann er nichts für, das ist die Krankheit, und zudem in einer
recht milden Form.
Informationen darüber habe ich sowohl
von Wikipedia als auch aus dem Buch „The Man Who Mistook His Wife
For a Hat“ von Oliver Sacks. Sehr interessantes Buch, welches wir
damals im Unterricht „Language and Cognition“ empfohlen bekommen
haben, als wir über die rechte und linke Gehirnhälfte redeten und
darüber sprachen, wie das Menschen beeinflusst, wenn eine der
Hälften (oder bestimmte Bereiche dort) beschädigt sind, denn es
gibt so unglaublich viele verschiedene Dinge, wie die Leute dann
reagieren. Es gibt in dem Buch eine Geschichte über einen Mann, der
eines Nachts aufwachte und bemerkte, dass jemand ihm ein fremdes Bein
in das Bett gelegt hatte – es war sein Eigenes, aber er nahm es
nicht mehr als sein Eigenes wahr und beschwerte sich darüber, dass
es an ihm kleben würde. Er versuchte, es abzureißen, aber das
funktionierte natürlich nicht. Im Buch findet sich auch eine
Geschichte über einen Mann, der seine Frau für einen Hut hält und
versucht, sich ihren Kopf aufzusetzen, ehe er seinen Fehler bemerkt.
Er erkennt keine Gesichter, sieht aber stattdessen Gesichter dort, wo
keine sind – es ist beschrieben, dass er ab und zu einen Hydranten
oder eine Parkuhr tätscheln oder mit einem Türknauf reden würde,
weil er davon überzeugt ist, dass dies Kinder seien.
Es sind teilweise sehr schräge
Geschichten, aber nichts, was man heutzutage (immer noch instinktiv,
oder zumindest ich) mit Geisteskrankheiten durch viele Filme
verbindet – Schizophrenie, irre vor sich hin kichernde Leute, die
vor und zurück wippen und schreien.
Doch früher hat man so etwas
vielleicht so aufgefasst. Meine Recherche ergab, dass man teilweise
betrunkene Leute für geisteskrank hielt, und um ehrlich zu sein –
manche der Methoden, die an Geisteskranken durchgeführt wurden, sind
so grenzwertig, dass man sich nicht darüber wundert, dass die Leute
dadurch tatsächlich wahnsinnig wurden. (Ich habe mir letztens das
Let‘s Play zu „Town of light“ angeschaut, welches auf einer
wahren Begebenheit beruht, die noch gar nicht mal so lange her ist.
Es überläuft einen da mehrmals ziemlich kalt.)
Doch Túrlor sollte relativ harmlos
sein, ähnlich wie der Noah aus „The Village“, der zwar
merkwürdig angeschaut wird, aber (eigentlich) niemandem etwas tut.
Túrlor hat seine Ticks und seine Ausbrüche von Schimpfwortanfällen,
wenn er aufgeregt ist, fällt ansonsten aber nicht auf.
Es war anfangs auch geplant gewesen,
dass Túrlor gleich das Feuer legen sollte, davon wich ich aber
wieder ab, da es somit keine „Gnade“ seitens Théodens gegeben
hätte und Gríma somit keinen Grund für seine Verachtung gegenüber
seinem König. (Er spuckt ihm immerhin im Buch vor die Füße, ehe er
flieht, und das interpretiere ich meist als Zeichen ziemlicher
Verachtung.)
Also musste ich etwas finden, was
Túrlor tun könnte. Was würde die Aufmerksamkeit des Dorfvorstehers
erregen und ihn gefährlich machen? Auch hier: hätte er Céne
einfach nur nachgestellt, wäre das nicht unbedingt ein Fall für den
König gewesen, und zudem sollte Gríma nicht seine Finger mit im
Spiel haben, sondern als (mehr oder weniger) unbeteiligter Beobachter
danebenstehen und beobachten.
Also kam mir die Idee, dass Túrlor
einen Mord begehen könnte – oder es zumindest versuchen. Das würde
auf jeden Fall den Dorfvorsteher auf den Plan rufen, und sicherlich
würde dies auch Erkenbrands Aufmerksamkeit erregen, wenn Túrlor
sich vielleicht ein wenig unangemessen im Gefängnis verhalten würde.
Und wenn Túrlor sich dann auch noch
nicht beherrschen kann und Erkenbrand beschimpft, vielleicht sogar
auch den König... dann muss der König davon erfahren, oder? Wäre
Túrlor nicht solch ein schwieriger Fall, dass Erkenbrand gerne
möchte, dass der König ihm bei seiner Entscheidung hilft? Immerhin
betrifft dies auch Théoden, Túrlor beleidigte ihn schließlich.
Zudem hört man in den alten Geschichten auch immer, dass Leute von
weit her kommen, um den König Recht sprechen zu lassen, denn ein
König gilt schließlich als weise und fähig, die richtige
Entscheidung zu treffen.
Ich beginne schon wieder, leise vor
mich hin zu kichern.
Also wurde Túrlor vor den König
gebracht, und zusätzlich zu seiner Nervosität, vor dem König zu
stehen, ließ ich ihn auch gleich noch einmal mit Blutegeln
behandeln. Túrlor hat schließlich böses Blut in sich, und Leute
werden ruhiger und wehren sich nicht mehr so sehr, wenn man ihnen
Blut abnimmt.
Doch Túrlors Tick lässt sich leider
nicht ganz so leicht ruhigstellen, wenngleich dieser noch relativ
harmlos ist. Das Einzige, was er tut, wenn er aufgeregt wird, ist,
zusammenhangslos mit obszönen/anstößigen Wörtern um sich zu
werfen – damals im Mittelalter jedoch genug, um einen als
wahnsinnig zu bezeichnen. Und umso schlimmer, wenn man sich in einer
gehobenen Gesellschaft befindet, die Wert auf höfliche Umgangsformen
legt.
Die armen Adeligen werden also wohl
allesamt einen ziemlichen Schock bekommen haben, Túrlor so sprechen
zu hören, manche werden wohl auch angewidert, empört gewesen sein.
Und der arme Túrlor, der ja nur versuchte, seine Tat zu erklären,
aber so aufgeregt ist, dass er sich um Kopf und Kragen redet. Kein
Wunder, dass die meisten von Théodens Ratgebern (Gríma ja mit
eingeschlossen) der Meinung ist, dass man Túrlor am besten
ruhigstellen sollte.
Théoden jedoch nicht. Théoden ist
gütig und gnädig, Théoden sieht, dass Túrlor das nicht böswillig
macht, sondern dass das eine Art Zwang für ihn ist. Der König ist
also gütig und gnädig und lässt Túrlor mit einer Verwarnung
laufen.
Und eigentlich wäre das hier das Happy
End gewesen: Yay, Théoden ist weise, Théoden ist gerecht, Théoden
entscheidet richtig und lässt einen Unschuldigen laufen, der ja
nichts für seine Krankheit kann. Heil Théoden, lasst uns
Kuscheleinhörner ihm zu Ehren reiten!
Man darf mich hier nicht falsch
verstehen: Ich mag Théoden, ich bewundere ihn. Ich mag ihn aufgrund
seiner Menschlichkeit, die er im Buch zeigt, aufgrund seines
selbstironischen Humors. Er nimmt Merry als seinen Schwert-Than an,
als dieser danach fragt; er willigt selbst ein, dass er für Merry
wie ein Vater sein wird („zumindest für eine kleine Weile“).
Théoden gehört zu meinem absoluten Lieblingskönig und mit zu
meinen Top 5 Lieblingspersonen aus dem „Herrn der Ringe“.
Aber „Cwideas“ handelt nicht von
Théoden, es handelt von stuntfola und von Gríma. Es hätte
nicht mit der Botschaft zusammengepasst, die ich vermitteln will und
die in Teilen auch lautet: Bei manchen Entscheidungen kann man die
Konsequenzen nicht vorhersehen. Manche Entscheidungen werden
getroffen, weil man Gutes tun will, und es stellt sich nachher
heraus, dass diese Entscheidung mehr Schaden als Nutzen angerichtet
hat.
Und manchmal klappt es eben nicht, dass
man Leute retten möchte.
Güte und Gnade werden
von dem Helden der meisten Literatur groß in den Mund genommen, wenn
er jemanden verschont. Wenn die verschonte Person dann jedoch wieder
auftaucht und den Helden angreift, dann ist das niiiieeemals die
Schuld des Helden, sondern dann war die verschonte Figur einfach böse
oder zu doof, um das Geschenk zu würdigen, was ihr aufgrund der
allmächtigen Gnade des Helden zuteil wurde. Nein, der Held ist
unfehlbar und macht niemals Fehler. Fehler sind schließlich
menschlich, und das können wir unserem Helden nicht zumuten. (Ich
schaue sort of dich an, Harry Potter, weil mir gerade kein anderes
Beispiel einfällt. Schließlich hast du Pettigrew laufen lassen, und
dank dir bekam Voldemort einen neuen Körper. Hättet ihr Pettigrew
umgebracht, wäre das nicht unbedingt passiert.)
Es vergehen also einige Wochen, Monate,
in denen nichts passiert, bis die Nachricht kommt, dass ein gewisses
Dorf abgebrannt ist. Dieses Mal sogar nicht Sarumans Schuld;
ausnahmsweise sollte der Istar mal nicht seine Finger mit im Spiel
haben, um Gríma zu rekrutieren.
Nein, es ist die Schuld von Túrlor,
den Théoden ja in seiner Gnade und seinem Glauben an die Unschuld
und die Menschlichkeit hat laufen lassen... und wo das Problem ist,
dass Théoden mit seinem Glauben ja gar nicht mal unrecht hat. Er hat
einfach Túrlor falsch eingeschätzt.
Ein weiterer Zug des Tourette-Syndroms,
auf den ich bei meiner Recherche gestoßen bin, ist eine gewisse
Unfähigkeit, die Tragweite von Handlungen zu erkennen. Und dies
passte ziemlich gut mit dem Feuerlegen, denn ich wollte Túrlor nicht
als böswilligen Täter darstellen.
Durch den Brand sind natürlich wieder
alle entsetzt, und Théoden geht eigentlich von einem Unfall aus –
womöglich schaut er mit Absicht weg, wie stuntfola ja überlegt,
womöglich nicht. Vielleicht ahnt er, dass Túrlor den Brand gelegt
haben könnte, vielleicht ist er auch ehrlich von einem Unfall
ausgegangen.
Gríma, der durch den Tod seiner
Halbschwester natürlich angemessen entsetzt ist, interpretiert
Théodens Zurückhaltung in diesem Fall vielleicht als Unwille.
Vielleicht ist er selbst auch so entsetzt und wütend, dass er ein
wenig bei den Berichten der Überlebenden gepfuscht hat, um Théoden
zu handeln zu zwingen. (Ironisch, da er ja später den Auftrag hat,
gerade das Gegenteil zu tun.) Zwei Zeugen mehr zusätzlich zu Jenen,
die behaupteten, einen Schatten vor ihren Fenstern zu sehen, ehe das
Feuer begann... und Théoden würde das auf Dauer nicht ignorieren
können.
Und schließlich treffen wir auf
unseren lieben Túrlor wieder, der wahrscheinlich unter Stammeln und
Beschimpfungen und vielleicht sogar Tränen erklärt, dass es nicht
seine Absicht war, das ganze Dorf niederzubrennen. Er habe die
Menschen nur erschrecken wollen, dachte, das das ja eine lustige Idee
wäre. Feuer erschreckt Menschen, führt sie aber auch zusammen...
nur leider ging der Plan nach hinten los, da Túrlor nicht bedacht
hat, dass Feuer sich ja auch ausbreiten kann.
Und nachdem Túrlor geendet hat und
bebend und zitternd vor dem König kniet, werden sich alle Augen auf
ihn richten, auf eben den König, denn der König spricht das
Urteil.
Ich beneide Théoden wirklich nicht in
dieser Situation. Er weiß, dass Túrlor so gesehen tatsächlich
nichts für seine Vorgehensweise kann, er ist schließlich nicht ganz
zurechnungsfähig, aber hinter ihm stehen seine ganzen Berater, die
eine Entscheidung von ihm wollen; ein ganzes Volk, welches womöglich
Angehörige im Dorf hatte und nun den Tod des „Mörders“ fordert;
seine Nichte und sein Neffe, denen er niemals wünschen würde,
ebenfalls Opfer eines solchen Dramas zu werden.
Also tut er das, was er für richtig
hält, was das Gesetz erfordert, („Ein Mörder, der sich seiner
Tat bewusst ist, verdient dem Recht nach den Tod, und dieser Mann
hatte hunderte von unschuldigen Menschen in den Flammen umkommen
lassen und war geflohen.“) auch, wenn er es nicht gerne tut.
(Doch der Schaden ist für Gríma selbst bereits angerichtet, denn
kann er Théodens Urteil nach so etwas noch vertrauen? Kann er sich
sicher sein, dass Théoden das nächste Mal in solch einer Situation
richtig entscheiden wird? Dass er sich nicht wieder von seiner
Güte und Gnade leiten lässt? Er kann sich nicht
sicher sein, denn er ist persönlich betroffen. Und Saruman hat diese
Ausstrahlung, dass ihm keine Fehler unterlaufen werden, dass er keine
Schwäche zeigen wird, Saruman hat also leider den „ich habe die
Kontrolle“-Vorteil. Der sich später als Nachteil herausstellt,
aber das konnte man ja nicht wissen. Man kann so Vieles nicht wissen
und vorhersehen.)
Und hat Túrlor den Tod verdient? Ja?
Nein? Wie hätte man selbst in solch einer Situation reagiert, wie
hätte man selbst entschieden?
Wer wäre denn der wahre Schuldige in
dieser Situation?
Théoden, der sich anfangs von seinem
guten Willen leiten ließ und Túrlor verschonte und damit indirekt
das Feuer verursachte?
Gríma, der schließlich die Berichte
fälschte und somit den König zwang, weiter nach Túrlor suchen zu
lassen – oder dessen Stimme nicht stark genug war, Túrlor gleich
beim ersten Mal unschädlich zu machen?
Túrlor selbst, der sich in seiner
Unwissenheit einen „Spaß“ erlaubte?
Die Dorfbewohner, darunter auch Gálmód
und Céne, die Túrlor ignorierten und nichts für oder gegen ihn
taten?
Auf diese Frage habe ich zumindest eine
Antwort: Schuldig bin auf jeden Fall ich, denn ich habe das Szenario
schließlich geschrieben. Ich wollte damit zum Nachdenken anregen,
und ich freue mich, dass es mir gelungen ist. :D
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